Am Montag, 17. Mai 2015, ist der ehemalige Wehrmachtsdeserteur David Holzer im Alter von 92 Jahren verstorben. Wir haben einen hochgeschätzten und lieben Freund verloren.
Als der Nationalrat am 21. Oktober 2009 das Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz beschloss und damit erstmals in der Zweiten Republik den Wehrmachtsdeserteuren explizit Anerkennung für ihr Handeln aussprach, war dieses Umdenken ganz wesentlich David Holzer zu verdanken. Er hatte während der politischen Auseinandersetzung um die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure in den Jahren zwischen 2002 und 2009 wiederholt und auf beeindruckende Weise öffentlich über seine Entscheidung zur Desertion, über das Leben im Untergrund, seine Verfolgung durch die Wehrmachtsjustiz, die Haft im Strafgefangenenlager Börgermoor, den Tod seines Bruders Alois im Bewährungsbataillon 500 und die Hinrichtung seines Freundes Franz Stolzlechner am Wiener Militärschießplatz Kagran Zeugnis abgelegt. Beide hatten mit ihm im Frühsommer 1943 der Wehrmacht und deren verbrecherischen Kriegsführung den Rücken gekehrt.
David Holzer, aufgewachsen in einer Bergbauernfamilie in der Gemeinde Schlaiten im Osttiroler Iseltal, wurde im Alter von 19 Jahren in die Wehrmacht eingezogen. Geprägt von den christlichen Werten seines Elternhauses und motiviert von einer gründlichen Ablehnung der NS-Ideologie ließ er bei der Vereidigung auf Adolf Hitler in Klagenfurt seine Hand hängen, als alle anderen sie erhoben. Als Soldat des Gebirgsjägerregimentes 139 erlebte er in Finnland eine Massenerschießung von 60 sowjetischen Kriegsgefangenen mit. Das Morden schockierte David Holzer zutiefst. Er sagte dazu in einem Interview im Jahr 2002: „Man hat einen gewissen Widerstand entwickelt. Man hat beim Militär allerhand gesehen, was einem nicht gepasst hat. Die rabiate Weise mit den Gefangenen und die Unmenschlichkeit im Gesamten. Dann ist man auf den Gedanken gekommen, da machen wir nicht mehr mit.“
Auf einem Heimaturlaub in Schlaiten entschlossen sich David und Alois Holzer mit Franz Stolzlechner nicht mehr einzurücken. Stattdessen bauten sie sich in einem unzugänglichen Graben in ihrer Heimatgemeinde ein Versteck. Mit Hilfe einiger Einheimischer und ihrer Familien blieben sie bis Jänner 1944 unentdeckt. Bei einer Besichtigung der Reste des Erdbunkers sagte David Holzer sechs Jahrzehnte später: „Hier habe ich Freiheit verspürt.“ Im Jänner 1944 wurde Franz Stolzlechner von einem Gendarmen gestellt und angeschossen. Unter dem Druck der Gestapo auf ihre Familie stellten sich David und Alois Holzer. David nahm die „Schuld“ an der Desertion auf sich und wurde zum Tode verurteilt, später zu 14 Jahren Haft begnadigt und mit seinem Bruder Alois in das Strafgefangenenlager Börgermoor deportiert. Auf dem Transport wurde David in Wien Zeuge der Deportation von Juden: „Da haben sie die Juden so miserabel behandelt, das war so scheußlich, das hat man nicht ausgehalten.“ In Gesprächen versagte David an solchen Stellen die Stimme. Was er gesehen hatte, erschien ihm unfassbar. Ohne je Literatur über die Shoah und die Konzentrationslager gelesen zu haben, fand er in der Beschreibung der völligen Entmenschlichung ähnliche Worte wie der italienische Auschwitz-Überlebende Primo Levi: „Im Verhältnis zum Lager ist man im Bewährungsbataillon noch ein Mensch gewesen. Man war zwar in einem Himmelfahrtskommando, aber Mensch warst du noch. Im Lager warst Du kein Mensch.“
David und Alois Holzer überlebten Börgermoor. Im November 1944 wurden sie in das Wehrmachtsgefängnis Torgau-Fort Zinna überstellt und dem Bewährungsbataillon 500 zugeteilt – als „Kanonenfutter“ für die Rückzugsgefechte gegen die Rote Armee. Eindrücklich schilderte David Holzer die Exekutionen von Wehrmachtsdeserteuren, denen er vor dem Abrücken an die Front zur Abschreckung beiwohnen musste. Sein Bruder Alois fiel; er überlebte verwundet und wurde von der Roten Armee aufgelesen. Mit Soldaten der Roten Armee erlebte David die Freude über das Kriegsende. Seine Augen funkelten, als er den Jubel der Rotarmisten nachahmte.
Nach seiner Heimkehr stürzte sich David Holzer in die Arbeit auf dem elterlichen Bauernhof und in der Forstwirtschaft. Mit seiner Frau Thekla zog er zehn Kinder groß. Viele Sommer lang bewirtschaftete er seine geliebte Alm. Die Erlebnisse in der Gestapo-Haft, im KZ Börgermoor und in den Fängen der Wehrmachtsjustiz blieben unaussprechbar, ließen ihn jedoch nie los: „Man sinniert da manchmal so leer…, weil man es einfach in einem drinnen hat, das lässt sich nicht wegstecken,“ erklärte er uns. 1981 sah er sich verpflichtet, sich öffentlich zu äußern. In einem Nachruf auf seinen Nachbarn Florian Pedarnig im „Osttiroler Boten“ schilderte er die Geschichte der Desertion und bedankte sich bei ihm für seine schützende Hand: Als Ortsbauernführer hatte sich Pedarnig für die Aufhebung der Todesstrafe gegen David eingesetzt und die Verhaftung der Eltern verhindert. Uns bleibt nicht Vergleichbares aber Ähnliches zu tun: Wir danken David Holzer für sein Vertrauen, für seine Bereitschaft und die Kraft, die Bürde des persönlichen Erinnerns auf sich zu nehmen, um die gesellschaftlichen Blockaden des Erinnerns zu überwinden und Gerechtigkeit für die Wehrmachtsdeserteure zu erreichen – was nichts anderes heißt, als ein Stück weit dem Anspruch einer demokratischen Republik und einer humanen Gesellschaft gerecht zu werden, für die David, Alois Holzer und Franz Stolzlechner ihr Leben eingesetzt haben.
Peter Pirker und Hannes Metzler
für das Personenkomitee Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz
Ein Interview mit David Holzer und ein längerer Text, publiziert im Osttiroler Boten im Jahr 2002, findet sich auf hier.