Gerichtsherren-Standort Concordiaplatz 1

Das Gebäude am Concordiaplatz 1 diente während des Zweiten Weltkriegs als Dienstort des “Kommandeurs der Panzertruppen XVII” und war somit Teil des Netzwerks der nationalsozialistischen Militärjustiz. Heute befindet sich hier ein Amtsgebäude des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF).

Concordiaplatz 1, 1010 Wien, September 1942 (Bild: HMW, Sammlung Wien Museum)
Concordiaplatz 1, 1010 Wien, September 1942 (Bild: HMW, Sammlung Wien Museum)
 
Geschichte vor 1938
Das Gebäude wurde ca. 1880 von Wilhelm Stiassny auf dem Grund des alten K.K. Arsenals errichtet, das sich bis ca. 1860 an dieser Stelle befand. Stiassny war Architekt und Lokalpolitiker, sowie lange Jahre im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien tätig. Er plante Kultstätten, wie die alte israelitische Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs, war beteiligt an der Gesellschaft zur Sammlung jüdischer Kulturgüter, die das Jüdische Museum gründete und war international für seine Synagogenbauten bekannt, u.a. der “Polnischen Schul” im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Der Concordiaplatz 1 stand laut dem Grundbuch durchgehend im alleinigen Eigentum eines Herrn Albrecht Marquis von Hohenkubin. Zeitgleich zur Gebäudeerrichtung wurde der Concordiaplatz angelegt und nach dem Schriftstellerverein Concordia benannt, der in der nahegelegenen Werdertorgasse seinen Sitz hatte.
 
Verwendung durch Wehrmacht und NS-Militärjustiz
In Österreich gab es bis zum “Anschluss” an das Deutsche Reich im März 1938 keine Militärjustiz. Diese war als Errungenschaft von 1918 in der Ersten Republik abgeschafft worden und auch dem Austrofaschismus gelang keine Wiedereinführung. Nach dem “Anschluss” 1938 stand die Wehrmacht (und ihre Justiz) vor dem Problem, einerseits geeignete Räumlichkeiten für die NS-Militärjustiz zu akquirieren und andererseits, geeignetes Personal zu finden und rasch auszubilden. Für den Aufbau der NS-Militärjustiz in Wien war 18 Monate Zeit. Bis zum Überfall auf Polen war dieser Prozess abgeschlossen. Die Wehrmachtsjustiz hatte sich etabliert und zahlreiche Standorte bezogen, darunter mehrere Gerichtsstandorte, Haftanstalten und Hinrichtungsorte für die Exekution von Todesurteilen gegen Soldaten und Zivilist:innen. Während des Krieges wurde das Netzwerk der NS-Militärjustiz in Wien weiter ausgebaut und war schlussendlich an zwei Dutzend Standorten aktiv. Die NS-Militärjustiz verhängte während des Zweiten Weltkriegs mehr als 30.000 Todesurteile, darunter gegen Soldaten, Kriegsgefangene und Zivilist:innen, insbesondere aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten in ganz Europa. Die meisten Todesurteile ergingen gegen Deserteure und “Wehrkraftzersetzer”. Viele tausend weitere Soldaten starben nach kriegsgerichtlichen Urteilen in sogenannten Bewährungseinheiten an der Front.
Faksimile, Ermittlungsakt gegen J. B., vom Juli 1943 
(Aktenquelle: ÖSTA/DWM/Ger)
Faksimile, Ermittlungsakt gegen J. B., vom Juli 1943
(Aktenquelle: ÖSTA/DWM/Ger)

Spätestens ab 1943 bezog der Kommandeur der Panzertruppe XVII den Standort Concordiaplatz, was sich nicht zuletzt aus den ab diesem Zeitpunkt hier unterzeichneten Urteilen ablesen lässt. Aus der Zeit existieren zudem Aufnahmen des Gebäudes, die es als militärisch gesichert und bewacht zeigen. Die Zahl XVII bezieht sich auf den Wehrkreis XVII, der in etwa aus den heutigen Bundesländern Wien, Nieder- und Oberösterreich bestand. Bei diesem Verband handelte sich um einen Verband des Ersatzheeres, zuständig für Rekrutierung, Ausbildung und Versorgung. Über die Menge an Verfahren – und damit auch die Menge der Todesurteile – lassen sich in Ermangelung von Forschung zu diesem Standort bzw. diesem Verband aus heutiger Sicht keine gesicherten Angaben machen.

 
Die NS-Militärjustiz und seine Gerichtsherren
Für das Verständnis der Struktur der NS-Militärjustiz ist entscheidend, dass es ab 1939 keinen Instanzenzug gab. Das bedeutet, dass Berufungen nicht möglich waren, Gnadengesuche in der Regel aussichtslos waren und alleine der übergeordnete Gerichtsherr ausschlaggebend war. Kommandanten, also die tatsächlichen Befehlshaber der Streitkräfte, waren auf zweierlei Weise zentral in die Gerichtsbarkeit eingebunden: Erstens als alleinige Autorität in der Disziplinarstrafordnung, da der Kommandant der jeweiligen Einheit sowohl im Krieg als auch im Frieden weitreichende Straf- und Disziplinierungsbefugnisse hatte. Zweitens prüfte der Kommandant der Einheit alle Gerichtsurteile der ihm untergeordneten Gliederungen.
 
Der Gerichtsherr war in der Strafgerichtsbarkeit “Herr des Verfahrens” und “Träger der Gerichtsbarkeit”. Der Gerichtsherr leitete das Verfahren ein, wies es Gericht und Richter zu und prüfte die ergangenen Entscheidungen. Ein Richter des mit der Ermittlung und Verhandlung betrauten Gerichtes erstellte dem Gerichtsherrn dazu ein Rechtsgutachten. Der Gerichtsherr hatte anschließend die Möglichkeit, das Urteil aufzuheben, zu bestätigen, neu verhandeln zu lassen oder an eine übergeordnete Stelle weiterzuleiten. Dem Gerichtsherrn bot sich damit großer Handlungsspielraum.
 
Schon vor dem Prozess bestimmte der Gerichtsherr Ankläger, Richter und Verteidiger und übte auch auf diese Weise massiven Einfluss auf das Verfahren aus. Bei schwereren Delikten wurden in den Prozess auch höhere Führungsebenen beigezogen.
 
Die NS-Militärjustiz war für alle Soldaten (einschließlich der Luftwaffe und Kriegsmarine), Wehrmachtsbeamt:innen, Wehrpflichtigen im Beurlaubtenstand (“Heimaturlaub”), Verwundeten während der Genesung, nichtmilitärischen Angehörigen einer Dienststelle sowie in Kriegszeiten Personen des Gefolges, Kriegsgefangenen und, in besonderen Fällen, auch für Zivilist:innen, zuständig. Somit wurden auch Frauen systematisch zu Opfern der NS-Militärjustiz.
 
Fallbeispiel
Am 14. Juni 1943 meldete die Bahnhofswachkompanie am Pressburgerbahn-Bahnhof (heute Wien Mitte) an die Streifenabteilung Groß-Wien und deren Kommandeur, beide in der Rossauerkaserne, dass sie an diesem Tag B. am Bahnhof festgenommen haben. Die Verhaftung wurde der Wehrmachtskommandantur Wien, Abt. Ib/D, Universitätsstraße, gemeldet und B. von dieser Abteilung am 15. Juni verhört, wobei unklar bleibt, wo dieses Verhör stattfand. Zur Auswahl stehen mehrere Wehrmachtsuntersuchungsgefängnisse, die Rossauerkaserne oder der Standort der Wehrmachtskommandantur Wien in der Universitätsstraße 7.
 
Im Verhör gab B. an, nach seinem Urlaub seine Einheit, die nun in Mödling war, nicht gefunden zu haben. Daraufhin habe er seinen Urlaubsschein so manipuliert, dass er zwei Wochen länger Urlaub hatte. Das Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis X (Wien, Favoriten) meldete am 16. Juni 1944, dass B. am Vortag eingeliefert worden sei. Das Verfahren endete mit mehreren Monaten Gefängnis, das zur Frontbewährung ausgesetzt wurde, wobei vier Wochen Arrest im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis II (Wien, Leopoldstadt) abzuleisten waren. Das Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis II meldete an das Gericht: Wehrmachuntersuchungsgefängnis Wien, Zweigstelle Wien II, Albrechtskaserne St.L. I 145/43 Wien, den 8. Juli 1943
 

An das Gericht der Division 177, Wien VI. Es wird mitgeteilt, dass Gefr. B. Joh., 1.Pz.Ers.Ausb.Abt. 4, Wien Mödling, am 7. Juli, 18:00 Uhr zur Strafverbüssung in das Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis eingeliefert wurde. Strafbeginn: 1.Juli, 0:00, Strafende: 28.Juli, 24:00, Strafe: 4 Wochen gesch. Arrest.

Danach wurde B. zur Frontbewährung einer Einheit zugeteilt. Beim Bestätigungsverfahren des Urteils, das im Rundlauf vom Gericht zur Einheit, weiter zum Gerichtsherrn und zurück zum Gericht geht, zeichnete das Urteil ein “Kommandeur der Panzertruppen XVII”, Concordiaplatz 1 ab.

Quelle: Verfahren I 155/43 vor dem Gericht der Wehrmachtskommandantur Wien und I 557/1943 vor dem Gericht der Division 177. In: ÖStA/AdR, DWM/Gerichtsakten Div. 177, Kt. 4, Akt 90
 
Aufarbeitung und Gedenken
Lange Zeit spielte die Darstellung der Gebäudegeschichte mit Bezug auf die Verwendung während des Nationalsozialismus für die das Gebäude nützenden Ministerien keine Rolle. Die Verwendung des Gebäudes durch die Wehrmacht für Zwecke der Militärjustiz und der Organisation der nationalsozialistischen Angriffskriege wurden von Seiten der Ministerien nicht öffentlich thematisiert. Seit den 2010er Jahren kommt es zu einem schrittweisen Umdenken: Die Ministerien setzen sich zunehmend umfassender mit der eigenen Gebäudegeschichte auseinander.
 
Am 29. August 2024 wurde vom Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Ao. Univ.-Prof. Dr. Martin Polaschek, eine Gedenktafel am Gebäude enthüllt, die die NS-Geschichte des Gebäudes detailliert darstellt.
BMBWF/©eap.at 
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