Das Gebäude am Concordiaplatz 1 diente während des Zweiten Weltkriegs als Dienstort des “Kommandeurs der Panzertruppen XVII” und war somit Teil des Netzwerks der nationalsozialistischen Militärjustiz. Heute befindet sich hier ein Amtsgebäude des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF).
Das Gebäude wurde ca. 1880 von Wilhelm Stiassny auf dem Grund des alten K.K. Arsenals errichtet, das sich bis ca. 1860 an dieser Stelle befand. Stiassny war Architekt und Lokalpolitiker, sowie lange Jahre im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien tätig. Er plante Kultstätten, wie die alte israelitische Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs, war beteiligt an der Gesellschaft zur Sammlung jüdischer Kulturgüter, die das Jüdische Museum gründete und war international für seine Synagogenbauten bekannt, u.a. der “Polnischen Schul” im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Der Concordiaplatz 1 stand laut dem Grundbuch durchgehend im alleinigen Eigentum eines Herrn Albrecht Marquis von Hohenkubin. Zeitgleich zur Gebäudeerrichtung wurde der Concordiaplatz angelegt und nach dem Schriftstellerverein Concordia benannt, der in der nahegelegenen Werdertorgasse seinen Sitz hatte.
In Österreich gab es bis zum “Anschluss” an das Deutsche Reich im März 1938 keine Militärjustiz. Diese war als Errungenschaft von 1918 in der Ersten Republik abgeschafft worden und auch dem Austrofaschismus gelang keine Wiedereinführung. Nach dem “Anschluss” 1938 stand die Wehrmacht (und ihre Justiz) vor dem Problem, einerseits geeignete Räumlichkeiten für die NS-Militärjustiz zu akquirieren und andererseits, geeignetes Personal zu finden und rasch auszubilden. Für den Aufbau der NS-Militärjustiz in Wien war 18 Monate Zeit. Bis zum Überfall auf Polen war dieser Prozess abgeschlossen. Die Wehrmachtsjustiz hatte sich etabliert und zahlreiche Standorte bezogen, darunter mehrere Gerichtsstandorte, Haftanstalten und Hinrichtungsorte für die Exekution von Todesurteilen gegen Soldaten und Zivilist:innen. Während des Krieges wurde das Netzwerk der NS-Militärjustiz in Wien weiter ausgebaut und war schlussendlich an zwei Dutzend Standorten aktiv. Die NS-Militärjustiz verhängte während des Zweiten Weltkriegs mehr als 30.000 Todesurteile, darunter gegen Soldaten, Kriegsgefangene und Zivilist:innen, insbesondere aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten in ganz Europa. Die meisten Todesurteile ergingen gegen Deserteure und “Wehrkraftzersetzer”. Viele tausend weitere Soldaten starben nach kriegsgerichtlichen Urteilen in sogenannten Bewährungseinheiten an der Front.
Spätestens ab 1943 bezog der Kommandeur der Panzertruppe XVII den Standort Concordiaplatz, was sich nicht zuletzt aus den ab diesem Zeitpunkt hier unterzeichneten Urteilen ablesen lässt. Aus der Zeit existieren zudem Aufnahmen des Gebäudes, die es als militärisch gesichert und bewacht zeigen. Die Zahl XVII bezieht sich auf den Wehrkreis XVII, der in etwa aus den heutigen Bundesländern Wien, Nieder- und Oberösterreich bestand. Bei diesem Verband handelte sich um einen Verband des Ersatzheeres, zuständig für Rekrutierung, Ausbildung und Versorgung. Über die Menge an Verfahren – und damit auch die Menge der Todesurteile – lassen sich in Ermangelung von Forschung zu diesem Standort bzw. diesem Verband aus heutiger Sicht keine gesicherten Angaben machen.
Für das Verständnis der Struktur der NS-Militärjustiz ist entscheidend, dass es ab 1939 keinen Instanzenzug gab. Das bedeutet, dass Berufungen nicht möglich waren, Gnadengesuche in der Regel aussichtslos waren und alleine der übergeordnete Gerichtsherr ausschlaggebend war. Kommandanten, also die tatsächlichen Befehlshaber der Streitkräfte, waren auf zweierlei Weise zentral in die Gerichtsbarkeit eingebunden: Erstens als alleinige Autorität in der Disziplinarstrafordnung, da der Kommandant der jeweiligen Einheit sowohl im Krieg als auch im Frieden weitreichende Straf- und Disziplinierungsbefugnisse hatte. Zweitens prüfte der Kommandant der Einheit alle Gerichtsurteile der ihm untergeordneten Gliederungen.
Am 14. Juni 1943 meldete die Bahnhofswachkompanie am Pressburgerbahn-Bahnhof (heute Wien Mitte) an die Streifenabteilung Groß-Wien und deren Kommandeur, beide in der Rossauerkaserne, dass sie an diesem Tag B. am Bahnhof festgenommen haben. Die Verhaftung wurde der Wehrmachtskommandantur Wien, Abt. Ib/D, Universitätsstraße, gemeldet und B. von dieser Abteilung am 15. Juni verhört, wobei unklar bleibt, wo dieses Verhör stattfand. Zur Auswahl stehen mehrere Wehrmachtsuntersuchungsgefängnisse, die Rossauerkaserne oder der Standort der Wehrmachtskommandantur Wien in der Universitätsstraße 7.
An das Gericht der Division 177, Wien VI. Es wird mitgeteilt, dass Gefr. B. Joh., 1.Pz.Ers.Ausb.Abt. 4, Wien Mödling, am 7. Juli, 18:00 Uhr zur Strafverbüssung in das Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis eingeliefert wurde. Strafbeginn: 1.Juli, 0:00, Strafende: 28.Juli, 24:00, Strafe: 4 Wochen gesch. Arrest.
Danach wurde B. zur Frontbewährung einer Einheit zugeteilt. Beim Bestätigungsverfahren des Urteils, das im Rundlauf vom Gericht zur Einheit, weiter zum Gerichtsherrn und zurück zum Gericht geht, zeichnete das Urteil ein “Kommandeur der Panzertruppen XVII”, Concordiaplatz 1 ab.
Quelle: Verfahren I 155/43 vor dem Gericht der Wehrmachtskommandantur Wien und I 557/1943 vor dem Gericht der Division 177. In: ÖStA/AdR, DWM/Gerichtsakten Div. 177, Kt. 4, Akt 90Lange Zeit spielte die Darstellung der Gebäudegeschichte mit Bezug auf die Verwendung während des Nationalsozialismus für die das Gebäude nützenden Ministerien keine Rolle. Die Verwendung des Gebäudes durch die Wehrmacht für Zwecke der Militärjustiz und der Organisation der nationalsozialistischen Angriffskriege wurden von Seiten der Ministerien nicht öffentlich thematisiert. Seit den 2010er Jahren kommt es zu einem schrittweisen Umdenken: Die Ministerien setzen sich zunehmend umfassender mit der eigenen Gebäudegeschichte auseinander.
Gericht der Division 177, Standort Stubenring
Im ehem. Kriegsministerium (heutiges Regierungsgebäude) am Stubenring 1, befanden sich 1938 bis 1945 eine ganze Reihe von für die Etablierung der Wehrmachtsjustiz wichtige Stellen und Gerichte. In diesem Gebäude wurde das Netzwerk der NS-Militärjustiz in Österreich und Wien aufgebaut und über sieben Jahre lang betrieben.
Das Gebäude wurde 1913 als k.u.k. Reichskriegsministerium errichtet und blieb auch nach der Ausrufung der Republik im Herbst 1918 in militärischer Verwendung. Als „Liquidierendes Kriegsministerium“ war es für die Demobilisierung der k.u.k. Armee und danach als „Staatsamt für Heereswesen“ für den Aufbau des Bundesheers der Ersten Republik verantwortlich. Im Jahr 1924 nahm die Radio-Verkehrs AG (kurz RAVAG), die erste österreichische Rundfunkgesellschaft, ihren Betrieb auf. Während des Austrofaschismus stand der Stubenring 1 einige Male im Brennpunkt österreichischer Politik, unter anderem wurde hier Kurt Schuschnigg zum Nachfolger des ermordeten Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß ernannt.
Mit 1. April 1938 zogen das Generalkommando des XVII. Armeekorps (A.K.) und die Kommandantur des Wehrkreises XVII mit ihren jeweiligen Stäben und Abteilungen – darunter das Gericht des XVII. A.K. – in das ehemalige Kriegsministerium ein. Die Juristen am Stubenring etablierten in kurzer Zeit eine politisch willfährige Justiz und schworen Richter, Justizbeamte und Offiziere auf die kommenden Eroberungskriege und den Vollzug der neuen Rechtsordnung ein.
In Österreich standen 18 Monate zur Verfügung, um eine Militärjustiz zu etablieren und diese entsprechend auf die Kriegserfordernisse vorzubereiten. Das Gericht des XVII. A.K. trug dabei die Hauptverantwortung. Die Berufungsinstanz wurde zweckentfremdet und in ein Konditionierungs- und Radikalisierungsinstrument umgebaut.
Das Reichskriegsgericht (RKG) verfügte über eine fix bestellte Reichskriegsanwaltschaft unter einem Oberreichskriegsanwalt. Vorarbeiten und -erhebungen zu RKG-Verfahren betreffend die Wehrkreise XVII und XVIII vor dem RKG wurden in Wien erledigt. Dabei kamen verschiedene Richter als (Rechts-)Gutachter und Untersuchungsführer zum Einsatz.
Das ehemalige Kriegsministerium spielte sowohl bei der Operation „Walküre“ als auch bei den späteren Aktionen „Herbstlaub 44“ und „Radetzky“ des militärischen Widerstands eine Rolle. Nach dem Scheitern von „Walküre“ (also der geplante Putsch nach einem gelungenen Attentat auf Adolf Hitler) konzentrierte man sich auf die von Major Carl Szokoll, Ordonnanzoffizier beim Stv. Generalkommando des XVII. A.K. am Stubenring 1, für Herbst 1944 (daher der Name „Herbstlaub 44“) erwartete Befreiung durch die Alliierten. Daraus wurde aber nichts, und so sandte Szokoll Anfang April 1945 im Rahmen der „Operation Radetzky“ seinen Vertrauten, Oberfeldwebel Ferdinand Käs, zur Roten Armee, um Unterstützungsmöglichkeiten bei der bevorstehenden Besetzung Wiens zu besprechen. Die Kollaboration wurde jedoch verraten, SD und SS stürmten den Stubenring – das vermeintliche Zentrum des militärischen Widerstands – und die Rote Armee musste Wien allein befreien.
Der Stubenring 1 war schon im März 1945 von einer Bombe getroffen worden und wurde in den letzten Kriegstagen auch noch Opfer eines Großbrandes. Dennoch koordinierte das Wehrkreiskommando von hier aus in Absprache mit der Stadtkommandantur in der Universitätsstraße 7 die Verteidigung der Stadt und die Evakuierungsmaßnahmen der Wehr- macht.
Das Gebäude wurde 1946 an die Republik zurückgestellt. Es war so schwer beschädigt, dass man eine Komplettabtragung erwog aber verwarf. Die Wiederherstellung und Erweiterung des Bauwerkes um zwei Etagen dauerte drei, die Rekonstruktion der Inneneinrichtung weitere zehn Jahre. Schließlich entpuppte sich das Haus als zu groß für die militärischen Bedürfnisse der Zweiten Republik, weshalb das Amt für Landesverteidigung, die Übernahme ablehnte. Der Gebäudekomplex steht heute im Besitz des Wirtschaftsministeriums, wird von der Burghauptmannschaft Österreich verwaltet und dient, drei Bundesminister:innen als Amtssitz.
Lange Zeit spielte die Darstellung der Gebäudegeschichte mit Bezug auf die Verwendung während dem Nationalsozialismus für die das Gebäude nützenden Ministerien keine Rolle. Anschluss, Funktion für die Miltärjustiz oder für die nationalsozialistischen Angriffskriege kamen nicht vor. Seit 2010er Jahren kommt es zu einem schrittweisen Umdenken – Ministerien stellen sich der Gebäudegeschichte umfassender. Am 23. Jänner 2023 wurde durch die Bundesminister:innen Alma Zadić, Johannes Rauch, Norbert Totschnig und Martin Kocher eine Gedenktafel am Gebäude enthüllt, die die NS-Geschichte des Gebäudes umfassend darstellt.
Lange Nacht der Museen goes Deserteursdenkmal
Am Samstag, dem 6. Oktober 2018, findet bereits zum 19. Mal die „ORF Lange Nacht der Museen“ in ganz Österreich statt. Das Deserteursdenkmal ist als eines der rund 700 Stationen (Museen, Galerien, usw.) zum ersten Mal auch dabei und bietet kulturinteressierten NachtschwärmerInnen von 18.00 bis 01.00 Uhr Früh ein Programm.
Deserteursdenkmal am Ballhausplatz
Immer noch fragen sich viele Menschen, was das dreistufige liegende X auf dem Ballhausplatz darstellen soll. Die „ORF-Lange Nacht der Museen“ ist ein schöner Anlass, die Bekanntheit des Denkmals für die Verfolgten der NS-Militärjustiz zu erhöhen. Das 2014 von Olaf Nicolai geschaffene Monument bildet den Höhepunkt der gesellschaftlichen und juristischen Rehabilitierung österreichischer Wehrmachtsdeserteure, „Wehrkraftzersetzer“ und Kriegsdienstverweigerer, die vor allem dem Personenkomitee „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“ und den Grünen zu verdanken ist.
Guides informieren Sie zu jeder Zeit über die Hintergründe des Denkmals. Dazu gibts Informationsmaterial und Bücher.
Mehr Infos unter diesem Link: Lange Nacht der Museen 2018.
Gericht der Division 177, Standort Hohenstaufengasse
Im Gebäude Hohenstaufengasse 3 befand sich ab Ende 1943 bis zur Befreiung ein Gericht der NS-Militärjustiz. Es war Teil eines Unrechtsregimes das Deserteure, Selbstverstümmler, Saboteure, Wehrdienstverweigerer, u.a. verfolgte.
Das Gebäude Hohenstaufengasse 3 wurde von Otto Wagner in den Jahren 1882-1884 für die Zentraleuropäische Länderbank errichtet. Es gilt als hervorragendes Beispiel für das Frühwerk des berühmten Jugendstilarchitekten und findet daher in zahlreichen Architekturlexika Erwähnung. Die Länderbank verkaufte das Haus im Sommer 1938 an das Deutsche Reich. Die Wehrmacht ließ sogleich Modernisierungen durchführen, einige Zeit nutzten auch andere Stellen das Gebäude, darunter das Ministerium für Landwirtschaft. Der große, helle Kassensaal und die Tresorräume im Keller bestehen bis heute.
Das Feldkriegsgericht der Division 177 besaß in Wien bereits zwei Standorte, am Stubenring und Loquaiplatz. Ende 1943 wurde ein dritter Standort in der Hohenstaufengasse 3 eingerichtet. Man kann davon ausgehen, dass der Standort und die neue Abteilung III eigens zur Verfolgung des ‚Selbstverstümmler-Unwesens‘, das dem Divisionsrichter Karl Everts ein ideologischer Dorn im Auge war, eingerichtet wurden. Die geografische Nähe zu den Verhörräumlichkeiten in der Roßauer Kaserne und zum Gericht der Wehrmachtskommandantur Wien in der Universtitätsstraße boten zusätzliche Vorteile gegenüber der Mariahilfer Hauptstelle. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten insgesamt rund 17 Richter am Gericht der Division 177.
Die nunmehrige Abteilung III des Gerichts der Division 177 unter der Leitung von Karl Everts führte vor allem einen unerbittlichen Kampf gegen Selbstverstümmler. Man war bei Gericht der Überzeugung, dass durch absichtlich beigefügte Verletzungen und Selbstansteckungen, falsche Krankmeldungen oder mutwilliger Verlängerung von Heilungsprozessen in Wien massenweise der Dienst in der Wehrmacht verweigert wurde.
Karl Everts, der schon vor dem Krieg als Richter beim Gericht der 2. Panzer-Division in Wien stationiert gewesen war, baute in Zusammenarbeit mit der Fahndungsgruppe 200 der Heeresstreife ein engmaschiges Netzwerk der Verfolgung auf, das sich anfangs auf bestimmte Formen von Knochenbrüchen und Kniegelenksverletzungen konzentrierte, schon bald aber jede vermutete Selbstverstümmelung untersuchte.
Die Fahndungsgruppe 200 lieferte Everts im Frühsommer 1944 zwar erste Hinweise auf systematisch betriebene Selbstverstümmelungen, es fehlten aber die Beweise. Dies änderte sich, als es Everts im Juli 1944 gelang, einen Denunzianten, dem er Strafmilderung versprochen hatte, in das Reservelazarett XIa in der Boerhavegasse in Wien-Landstraße einzuschleusen. Es wurde in Folge ein Netzwerk aus Denunziant:innen und Spion:innen aufgebaut, welche häufige Treffpunkte wie Schwimmbäder und Kaffeehäuser bzw. Tatorte wie Lazarette ausspähten. Zusätzlich kontrollierte die Heeresstreife vermehrt die Reservelazarette in Wien, um dort sowohl medizinisches Personal als auch Patienten unter Druck zu setzen und zu Denunziationen anzustiften.
Um sich selbstverletztende Soldaten zu finden war jedes Mittel Recht, auch explizit Folter. So meinte Everts in einer Urteilsbegründung:
„Wenn zeitlich und örtlich bestimmte Verletzungen geradezu seuchenartig auftreten, die am Marke und an der Wehrkraft eines Volkes, welches einen Kampf auf Leben und Tod führt, rütteln, dann müssen und können auch gegebenenfalls Mittel zur Anwendung gebracht werden, die geeignet sind, derartige Verbrecher zum Sprechen zu bringen. Bei der Auswahl der Mittel kann naturgemäß nicht jener Maßstab angelegt werden, wie er in Friedenszeiten üblich ist.“
Um die Kommunikation zwischen Hohenstaufengasse und Roßauer Kaserne zu vereinfachen, wo die Wehrmachtsstreife mit der Aufgabe betraut war, mit Verhören und Folterungen zu den erwünschten Geständnissen zu kommen, wurde ein Mitarbeiter des Gerichts direkt in der Kaserne stationiert.
Bereits am 4. August 1944 ging Everts davon aus, mindestens achtzig Fälle von Selbstverstümmelung zur Verhandlung bringen zu können. Die Anklagepunkte, die Everts ab Oktober 1944 verschriftlichte, basierten zu einem Großteil auf durch Folter erpressten Geständnissen, da die meisten Ärzte sich weigerten, tendenziöse Gutachten auszustellen, die die Anklage unterstützten. Zwischen 23. Oktober und 19. Dezember 1944 wurden jedenfalls 68 Personen, Frauen und Männer, wegen Selbstverstümmelung oder Beihilfe zur Selbstverstümmelung verurteilt, 27 von ihnen zum Tode, die übrigen Angeklagten erhielten insgesamt 378 Jahre Zuchthaus. 14 der zum Tode Verurteilten wurden am 7. Februar 1945 am Militärschießplatz Kagran erschossen. Everts leitete und organisierte diese Hinrichtungen.
Noch am 15. Februar 1945, also zwei Monate vor der Befreiung Wiens durch die Rote Armee, führte Karl Everts Verfahren gegen Selbstverstümmler. Die Richter in der Hohenstaufengasse 3 hielten sogar in den letzten Tagen bis zur Befreiung den Dienstbetrieb aufrecht. Dieser bestand zu diesem Zeitpunkt vor allem daraus, verurteilte Soldaten zur „Frontbewährung“ zu schicken, also der Österreich vom Osten her befreienden Roten Armee entgegenzuschicken. Erst rund um den 4.4.1945 dürften sich auch die letzten Richter nach Oberösterreich abgesetzt haben.
Das Gebäude fiel als „Deutsches Eigentum“ der Republik Österreich zu. In den ersten Jahren wurde es von den verschiedenen militärischen Stellen verwendet, dem folgte (wie am Otto-Wagner-Platz) das Zentralbüro des European Recovery Program (ERC, „Marshall-Plan“). Nach dessen Auslaufen nutzten verschiedene Bundesstellen (Bundesverlag, Lehrmittelstelle, Fremdenverkehrswerbung, Archiv des Innenministeriums, usw.) das Gebäude. Seit 1994 wurde es vom Bundeskanzleramt (Sektion III) genutzt, seit 2018 ist es Teil des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS). Der ehemalige Gerichtssaal ist heute ein Sitzungszimmer.
Lange Zeit spielte die Darstellung der Gebäudegeschichte in Bezug auf die Verwendung während dem Nationalsozialismus für die das Gebäude nützenden Ministerien keine Rolle. Seit den 2010er Jahren wurde durch zivilgesellschaftliche Kampagnen die Geschichte des Gebäudes in der Öffentlichkeit thematisiert. So wies Richard Wadani, Wehrmachtsdeserteur und Ehrenobmann des Vereins ‚Personenkomitee Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz‘ am 13.8.2009 bei einer Pressekonferenz vor Ort auf das fehlende Gedenken hin:
Heldendenkmäler gibt es überall, aber an die Opfer erinnert nichts.
Am 6.9.2009 brachte eine vergangenheitspolitische Initiative namens ‚AK Denkmalpflege‘ während eines aktionistischen Stadtspazierganges eine temporäre Gedenktafel mit folgender Aufschrift am Gebäude an:
Hier, auf dem NS-Feldkriegsgericht für Wien von 1943-1945, hängt [k]eine Gedenktafel für die Verfolgten und Ermordeten der NS- Militärjustiz.
Am 12. Jänner 2024 wurde von Vizekanzler und Bundesminister Werner Kogler, in Anwesenheit der Bundesminister:innen Alma Zadić und Johannes Rauch, der zweiten Nationalratspräsidentin Doris Bures, sowie Bezirksvorsteher Markus Figl, eine Gedenktafel am Gebäude enthüllt, die auf die NS-Geschichte des Gebäudes verweist. Im Rahmen der feierlichen Enthüllung spielte das Ensemble der Gardemusik Wien das Moorsoldatenlied.
Fallbeispiele
- Emil Ifkovics und Franz Josef Fröch desertierten zusammen, das Gericht der Division 177 in der Hohenstaufengasse 3 verurteilte sie am 4. Oktober 1944 zum Tode. – Biografie Emil Ifkovics und Franz Josef Fröch (DÖW) – Gericht der Div.177 an den Gendarmerieposten mit der Bitte um Ermittlungshilfe (DÖW) – Protokoll der Erschießung von Ifkovics (DÖW)
- Karl Lauterbach gelang es durch Selbstverletzung nicht in der Wehrmacht dienen zu müssen, das Gericht der Division 177 in der Hohenstaufengasse 3 verurteilte ihn am 26. Oktober 1944 zum Tode. Biografie Karl Lauterbach (DÖW) – Protokoll der Erschießung von Lauterbach und anderer (DÖW)
Zentralgericht des Heeres, Außenstelle Wien
Über dem heutigen Amtsgebäude des Bundesheeres am Franz-Josefs-Kai 7-9 wehte bis 1945 die Reichskriegsflagge, in ihm tagte die Wiener Außenstelle des Zentralgericht des Heeres. Es war als Gericht der NS-Militärjustiz Teil eines Unrechtsregimes das Deserteure, Selbstverstümmler, Saboteure, Wehrdienstverweigerer, usw. verfolgte.
Geschichte vor 1938
Der „Industriepalast“ am Franz-Josefs-Kai 7-9 war bis in die 1930er Jahre eine weithin bekannte Adresse: eine Vielzahl an Speditionen, Reisebüros, Großhandelsfirmen, Verlage und ähnlichen Unternehmen boten dort ihre Dienste an. 1932 hatten 60 Wiener Firmen dort Niederlassungen auf rund 2000 Quadratmetern, ein Beispiel siehe nebenbei. Das für Moriz Brill erbaute Gebäude wurde 1907 fertig gestellt und verfügte sogar über einen eigenen Abgang zur damaligen Stadtbahn (heute: Linie U4).
Übernahme Wehrmachtsjustiz
Die BesitzerInnen des Gebäudes wurden 1938 enteignet, das nunmehr „arisierte“ Gebäude für Dienststellen des Dritten Reiches adaptiert. Kurzfristig bezog das in Auflösung befindliche und aus dem Stubenring ausquartierte Ministerium für Wirtschaft und Arbeit das Gebäude, 1939 folgte die Wehrmacht mit verschiedenen Dienststellen.
Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin, Außenstelle Wien
Es handelte sich dabei um ein Gericht mit besonderer Zuständigkeit innerhalb der Wehrmachtsjustiz. Es war kein Höchstgericht, manche grundsätzlichen Entscheidungen aber für andere Gerichte bindend. Es wurde 1934 unter der Bezeichnung „Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin“ gegründet, seit 1938 besaß es seine einzige Außenstelle in Wien. Es ist strikt vom Gericht der Wehrmachtskommandantur Wien zu unterscheiden.
Das Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin war ua. zuständig für alle im Ersatzheer anfallenden Fälle von Wehrkraftzersetzung (mit Ausnahmen, etwa Selbstverstümmelung), Verstößen gegen das „Heimtückegesetz“, politischen Strafsachen, Homosexualität sowie alle Fahnenflüchtigen, die nach drei Monaten Fahndung nicht gestellt wurden.
Über 100 Richter waren in Berlin und Wien an diesem Gericht tätig und führten rund 46.000 Verfahren. Die Zuständigkeit dieses Wiener Gerichts reichte weit in den von der Wehrmacht besetzten Osten und Süden und Westen, hier wurden Verfahren aus Griechenland, Rumänien und Frankreich verhandelt. Die Verhafteten wurden dabei nur selten dem Gericht selbst vorgeführt, meist das Urteil dem Soldaten nur verlesen und vor Ort exekutiert.
Zentralgericht des Heeres, Außenstelle Wien
Im Frühjahr 1944 wurde das Zentralgericht des Heeres gegründet und übernahm die allermeisten Agenden des Gerichts der Wehrmachtskommandantur Berlin. Auch die Außenstelle Wien ging in diese neuen Strukturen über. Die Größe des Gerichts blieb dabei im Wesentlichen gleich, ebenso die Anzahl der Verfahren. 1945 dürften Teile des Zentralgerichts des Heeres in die Hohenstaufengasse 3 übersiedelt sein, möglicherweise wegen Platzmangel oder Schäden am Gebäude.
Kommandantur der Wehrmachtsstreife
Die Wehrmachtsstreife war im Wesentlichen für Fahndung nach und Festnahme von verdächtigen Soldaten zuständig. Ihr Zentrum bildete die nahegelegene Rossauerkaserne, wohin die Festgenommenen gebracht wurden und wo Verhöre und Folterungen stattfanden. Übergeordnete Stellen waren die Kommandostandorte am Franz-Josefs-Kai 7-9 und am Kohlmarkt 8-10. Gestapo, Schutzpolizei und Wehrmachtsstreife unterstützten einander bei der Fahndung nach Verdächtigen stark, tauschten Informationen aus und bedienten sich des gleichen Netzwerks aus InformantInnen- und DenunziantInnen. Sie überstellten sich Verhaftete, die in die jeweils anderen Zuständigkeitsbereiche fielen. Entlang des Donaukanals konzentrierten sich diese Institutionen auch räumlich: Die Gestapo-Zentrale am Morzinplatz lag nur 400 Meter von der Kommandantur der Wehrmachtsstreife entfernt, wenige hundert Meter flussaufwärts folgten die Rossauerkaserne als Verhör- und Folterort sowie das Polizeigefängnis Rossauerlände, das alle drei nutzten.
Nach 1945
Das Gebäude wurde bei der Befreiung leicht beschädigt. Es fiel der Republik Österreich zu, obwohl es vor der „Arisierung“ gar nicht staatlichen Stellen diente. Gleich nach 1945 nutzte die Vorgänger-Institutionen des Bundesheeres und teils auch andere Einrichtungen der öffentlichen Hand das Gebäude. Erst Anfang 1955 wurde das Gebäude formal den enteigneten BesitzerInnen restituiert und daraufhin für das Verteidigungsministerium zurückgekauft. Ab 1957 wurde das Gebäude renoviert und modernisiert, damals erhielt es auch die schmucklose, grau-braune Fassade. Seither dient es dem Verteidigungsministerium als „Amtsgebäude Franz-Josefs-Kai“, zeitweise auch als Sitz des Ministers.